  | 
    
	
  
	
	
	«Viele Inszenierungen 
        sind reine Masturbation» 
        Opernsänger Ruggero Raimondi über Neuproduktionen und Modernität 
        VON REINMAR WAGNER  
        in Sonntagszeichnung, 
        05. Dezember 1999 
       
          SonntagsZeitung: Wir sind in Bologna, in jener Stadt, in der 
          Sie aufgewachsen sind. Das Opernpublikum hier gilt als fanatisch, aber 
          auch als gnadenlos. Ist es Ihnen gegenüber rücksichtsvoller?  
          Raimondi: Es ist vor allem ein sehr warmherziges Publikum, das 
          sich bereitwillig begeistern lässt. Sicher versteht es auch viel von 
          der italienischen Oper, aber ich habe es in den vielen Vorstellungen, 
          die ich hier gesungen habe, nie als besonders launisch oder ungnädig 
          erlebt. 
           
          Und wie wollen Sie das Schweizer Publikum verführen?  
           
          Für jedes Publikum, nicht nur in der Schweiz, ist vor allem die Abwechslung 
          interessant. Wenn ich nur einen Typen, einen Charakter oder nur Musik 
          von einem einzigen Komponisten singen würde, hätte doch kaum jemand 
          Freude daran. Ein Spaziergang von Donizetti zu Mozart, von Mozart zu 
          Verdi und von Verdi zu Rossini ergibt eine Breite an Opernfiguren und 
          Musikstilen, die das Publikum fesselt. 
           
          Sie schlüpfen innert kürzester Zeit vom burlesken Don Profondo aus Rossinis 
          «Viaggio a Reims» in den verzweifelten Filippo aus Verdis «Don Carlo». 
          Wie macht man das?  
           
           Ich habe all diese Figuren ja auf der Bühne sehr oft gespielt. 
          Ich kann sie aus meinem Innersten hervorholen. Es genügen zwei Noten 
          vom Orchestervorspiel, um mich in die entsprechende Szene, in die jeweilige 
          Stimmungslage der Figuren hineinzuversetzen. 
           
          Und wie viel von Ihnen selbst steckt in den Figuren? 
           
           Manchmal viel zu viel. Es wäre oft besser, eine gewisse Distanz 
          zu wahren. Aber das gelingt mir nie. 
           
          Dabei haben Sie ein so breites Repertoire, nicht nur im Bariton-Fach. 
          Sie singen sogar Bass-Partien wie Boris Godunow oder Jago in Verdis 
          «Otello».  
           
          Aber zwischen den Stimmlagen Bariton und Bass zu wechseln - das 
          geht nicht innerhalb von zwei Minuten. Das kann man nicht ins selbe 
          Programm hineinpacken. 
           
          Also singen Sie ein halbes Jahr lang Bass und das andere Bariton?  
           
          Nein, so schlimm ist es nicht. Es genügen mir jeweils zwei Wochen 
          Vorbereitung, um mich auf eine andere Tessitura umzustellen. Ich bin 
          in dieser Beziehung privilegiert: Die Natur hat mir einen grossen Stimmumfang 
          geschenkt. Das ist nicht etwas, was man lernen kann. Aber man muss es 
          natürlich pflegen und trainieren. 
           
          Im Moment sind Sie offenbar in einer «Tosca»-Phase: Hier in Bologna 
          proben Sie gerade «Tosca», im Januar singen Sie den Scarpia in Zürich. 
           
           Ich 
          freue mich sehr auf die Zürcher Neuproduktion zusammen mit Nello Santi. 
          Es gibt aber noch mehr: Meine nächste Platte wird auch eine «Tosca» 
          sein, zusammen mit Angela Gheorghiu und Roberto Alagna. Und gleich darauf 
          folgt wieder einmal eine Verfilmung dieser Oper.  
           
           Für das Fernsehen, wie an den Römer Originalschauplätzen vor fünf 
          Jahren? 
           
          Nein, es ist ein richtiger Film, der im Studio produziert wird. 
           
           
          Und weitere Pläne?  
           
          Danach kommt die Wiederaufnahme von Verdis «Falstaff» mit Daniel 
          Barenboim in Berlin und in Salzburg die «Così fan tutte» mit Claudio 
          Abbado. Und dann, was noch? Ich habe es gar nicht im Kopf. Ah ja, und 
          dann «Assassinio nella cattedrale» von Ildebrando Pizzetti, über den 
          Tod von Thomas Becket, eine Oper, die mich unheimlich gepackt hat, je 
          länger ich sie studiere. Es ist fast wie damals, als ich Mussorgskys 
          «Boris Godunow» kennen gelernt und einstudiert habe. Unglaublich vielseitig, 
          voller Umanità. 
           
          Die Sprache der Oper ist das Italienisch. Aber Sie haben auch russisch 
          und französisch gesungen.  
           
          Französisch ist für mich schwierig. Russisch ist noch schwieriger, 
          obwohl es eine sehr expressive Sprache ist und man darin so ausdrucksvolle 
          Pianissimi singen kann wie im Französischen vielleicht nicht. 
           
          Und das Deutsche? 
           
          Ich habe noch nie deutsch gesungen. Aber es gibt eine alte Idee, die 
          ich gerne noch verwirklichen möchte: Wagners «Holländer». Aber es müsste 
          eine Produktion mit einem romantischen Kontext sein, nicht eine dieser 
          «aktualisierten» Inszenierungen, die Sie heute überall sehen können. 
          Der Seefahrer, der verdammt ist, darauf zu warten, dass sich eine Frau 
          aus Liebe für ihn opfert: Das muss in einem romantischen Ambiente auf 
          die Bühne gebracht werden.  
           
          Gilt das nur für den «Holländer» oder denken Sie grundsätzlich so über 
          das moderne Regietheater?  
           
          Die Modernität einer Regiearbeit zeigt sich darin, wie der Regisseur 
          mit den Figuren umgeht, aber auf der Bühne soll das Ambiente nach den 
          Absichten des Komponisten umgesetzt werden. Aber heute gehen viele Inszenierungen 
          über gewisse Werte und Stile hinweg, einfach, weil sie etwas zeigen 
          wollen, das man noch nie gesehen hat. Das ist eine Art des Intellektualismus, 
          die für mich nichts weiter ist als gedankliche Masturbation.  
           
          Und was denken Sie über die Situation des Gesangs heute? 
           
          Es ist sehr schwierig, in diesem Geschäft Leute zu finden, welche 
          wirklich um des Gesangs willen arbeiten. Heute macht man Leute zu Sängern, 
          die nicht jenes unbedingte Verlangen, Singen zu müssen, in sich spüren, 
          sondern die einfach des Geldes und des Renommees wegen eine Gesangskarriere 
          einschlagen. Sie lassen sich gar nicht Zeit, ihre Stimme und ihr Repertoire 
          zu entwickeln. Da heisst es dann: In fünf Jahren singe ich «Trovatore». 
          Das Bariton- und Bass-Repertoire bietet fast nur Partien für Bösewichte 
          oder Komödianten.  
           
          Sind Sie nicht manchmal auf die Tenöre neidisch? 
           
          Die Charakterrollen sind doch weit spannender als diejenigen der 
          Tenöre! Ein Tenor hat seine Spitzentöne, um zu brillieren, ein Bass 
          muss sich andere Wege suchen: Farbe, Charakter… 
           
          Intelligenz?  
           
          Vielleicht, nicht unbedingt. Aber Intelligenz kann auf jeden Fall nie 
          schaden.  
        
       
      
      
       
       
     | 
      |